Denn Liebe ist stark wie der Tod. Lianes Geschichte

von Andersdenkende
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Liane, der es zwischenzeitlich wieder sehr schlecht ging, startete dennoch einen letzten Versuch, sich von ihm zu trennen. Er jedoch ließ sie nicht in Ruhe, warb wieder um sie, stellte ihr nach. Lianes beste Freundin, eine starke Frau, tat etwas sehr mutiges, sie besorgte sich heimlich aus Lianes Adressbuch die Telefonnummer ihres Geliebten, rief ihn an und versuchte, mit ihm zu reden.
Sie appellierte an seine Menschlichkeit und sein Gefühl für Liane, er müsse doch sehen, wie schlecht es ihr gehe. Wenn er nur einen Funken Verantwortungsgefühl habe, so solle er sich von ihr trennen und sie in Ruhe lassen. Er sei doch der Stärkere in dieser Beziehung, der Ältere und der Reifere; wenn ihm irgend etwas an dieser jungen Frau läge, solle er ihr helfen, indem er die Beziehung, die sich ganz offensichtlich zerstörerisch auf Liane auswirkte, beendete.

- Lianes Geiger lachte nur. Er erklärte, seine Geliebte sei erwachsen und volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Er selbst sähe keinerlei Anlass, warum er sich von ihr trennen sollte. Sie hätten stets schöne Stunden miteinander, warum sollte er darauf verzichten.

Er berichtete Liane von dem Telefonat, und Liane brach mit einem heftigen Streit sofort jeglichen Kontakt mit ihrer besten Freundin ab. Auch auf ihre Schwester, in der sie nur noch die Agentin der Eltern sah, hörte sie nicht mehr. Ich selbst hatte bei jedem unserer letzten Zusammentreffen das Gefühl, dass Liane sich immer mehr verschloss, dass sie Brücke um Brücke abbrach, so dass ich kaum mehr an sie herankam und keine Kommunikation mehr möglich war.

Bei einem meiner letzten Besuche bei ihr kam es dann auch mit mir zum Eklat.
Sie erzählte wieder davon, wie toll ihr Geliebter sei, und dass es nicht seine Schuld wäre, wenn sie manchmal unglücklich sei. Das ganze Problem läge bei ihr, sie sei schuld, weil sie zuviel verlange, zuviel fordere, nicht in der Lage sei, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es fiel mir schwer, dazu zu schweigen, aber ich wollte sie nicht unter Druck setzen.
Gerade mein Schweigen aber schien Liane zu verärgern, sie fragte mich auf einmal in einem ziemlich provozierenden Tonfall, wie ich dazu stünde.
„Denn,“ so meinte sie, „Ich bin halt so ein Mensch, der alles gibt, weißt du? Ich bin da nicht egoistisch, ich will einfach nur, dass es IHM gut geht, dass er glücklich ist, ich denke da nicht an mich. Du müsstest das doch eigentlich verstehen, du machst doch auch immer mal wieder was für andere, du mit deinen Projekten für schwererziehbare Jugendliche und Obdachlose und so!“
Ich lächelte: „Richtig, Liane, ich mache manchmal was für Leute, die es nötig haben. Wo dein Freund es aber nötig hat, dass man ihm hilft – er ist ein erwachsener, erfolgreicher Mann, er steht voll im Leben, er hat eine Familie und einen Freundeskreis und sein eigenes Geschäft – wozu es bei so jemandem nötig sein soll, ihm alles zu geben und sich dabei als selbstloser, sozial eingestellter Mensch zu empfinden, das entzieht sich meinem Verständnis.“
Liane war sauer. Sie warf mir mal wieder eingeschränktes Denken und fehlende Toleranz vor.
„Du liebst doch deinen Mann angeblich auch!“ stritt sie mit mir, „Gibst du ihm etwa nicht auch ALLES? Warm verstehst du es bei mir nicht, wenn ich ALLES gebe?“
„Ich gebe alles, ich nehme aber auch alles,“ erklärte ich ihr, „Wenn Liebe nur „alles geben“ bedeutet, dann ist das keine Liebe mehr, sondern Selbstaufgabe.“

Liane wollte keine Argumente hören, sie wollte streiten. Sie zeterte mit mir herum, ich würde nur einen auf moralisch machen und ihr ein schlechtes Gewissen einreden wollen. Sie wurde ungerecht und verletzend.

„Es geht mir nicht um Moral, es geht mir hier ausschließlich um dich!“ bemühte ich mich, ruhig zu bleiben, „Du bist meine Freundin, um dich mache ich mir Sorgen, das ist alles! Ich habe Angst, dass du mit dieser Beziehung überfordert bist, dass du damit nicht mehr zurecht kommst. Ich will dir nichts Böses, aber du hast zu oft bei mir geweint und gesagt, du willst es beenden, als dass ich dir glauben kann, dass du wirklich glücklich mit diesem Mann bist!“
Liane fing an zu schreien. Natürlich sei sie glücklich, wie ich es wagen könnte, ihr das Glück mit ihrem Freund abzusprechen. Es würde ihr großartig gehen, so gut wie jetzt mit ihm sei es ihr noch nie zuvor in ihrem Leben gegangen. Sie wisse ja nicht, was mit mir los sei, aber offenbar sei ich nicht in der Lage, sie mit den richtigen Augen zu sehen.

Da platzte mir der Kragen. Ich habe Liane am Handgelenk gepackt und vor den großen Spiegel im Flur gezerrt.
„DANN SIEH DICH AN!“ brüllte ich meine Freundin an, „SIEH DICH AN, und sage mir, was du siehst! Bist das noch du selbst?
Du hast zentimeterdicke Ringe unter den Augen, weil du kaum noch schläfst. Du bist total abgemagert, weil du kaum noch isst. Deine Mundwinkel hängen dir bald an den Kniekehlen, viel fehlt nicht mehr! Du lachst nicht mehr, du gehst nicht mehr raus. Du stehst dermaßen unter Strom, dass du dir selbst die Haare rausreißt! Und wenn er mal ein paar Tage nicht anruft, bist du so fertig, dass du dir mit einer Rasierklinge die Haut anritzt, weil du, wie du sagst, sonst den Schmerz nicht ertragen kannst! Bist das noch du? Mach doch endlich die Augen auf, Liane!“
Liane heulte. Sie riss sich los, baute sich wutentbrannt vor mir auf und schrie, sie sei glücklich, jawohl, sie sei glücklich!
- Eine perverse Situation. Meine völlig aufgelöste Freundin stand laut weinend vor mir und schrie in höchster Lautstärke, sie sei glücklich.

Sie tobte, es täte ihr leid, mir das mit den Haaren und der Rasierklinge jemals erzählt zu haben. Es sei halt ihre Art, mit dem Stress fertig zu werden. Später mal, wenn sich das alles normalisiert haben würde, würde das nicht mehr nötig sein.
„WAS soll sich bitte WANN normalisieren, Liane?“ wollte ich erschöpft wissen.
Liane starrte mich an, dann fing sie wieder an zu weinen, noch heftiger diesmal, und klammerte sich plötzlich an mich. „Hilf mir, hilf mir!“ schluchzte sie, „ Ich will da raus, bitte, hilf mir doch, hilf mir doch irgend jemand!“

Es war furchtbar.
Ich stand da mit meiner Freundin im Arm, und ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte diesen Menschen, von dem sie so abhängig geworden war, nicht einfach wegzaubern, ich konnte nicht in die Finger schnippen, und alles wäre wieder wie früher. Ich konnte Liane beistehen und versuchen, ihr Halt zu geben, aber den entscheidenden Schritt zur „Hilfe“, den musste sie selbst machen.
Sie brauchte dringend, nein dringendst ! professionelle Hilfe.

Es gelang mir, Liane halbwegs zu beruhigen, wir gingen zurück in ihr Zimmer, ich trocknete ihr die Tränen und besprach mit ihr noch einmal die Sache mit der Therapie. Ich versprach ihr, beim ersten Mal mitzukommen, falls sie sich fürchtete, ich bot ihr an, sie zu den Beratungsstellen zu begleiten. Ich gab ihr die Nummer von der Telefonseelsorge, für den Fall, dass sie zunächst mit jemandem anonym sprechen wollte. Ich sicherte ihr zu, mit ihren Eltern und ihren alten Freunden zu reden und die Differenzen mit ihnen zu klären, ich versuchte, ihr die Angst zu nehmen, dass irgendeiner von ihnen böse auf sie sein könnte – ich war mir sicher, dass alle sie unterstützen würden und Verständnis für ihre schwierige Lage aufbringen würden.

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Foto: Hans Dieter Volz  aboutpixel.de