Rache ist weiblich oder: die getäuschte Liebe

von Maja Langsdorff [Werbung]
Teil 1 |  2 |

Es war Nacht. Dunkel war es um die Frau, düster und beklemmend, nur ein ausgezehrter Mond warf sein fahles Licht in die Dachstube. Die Frau saß am Tisch, in der zitternden Hand eine Tablettenschachtel, neben sich ein Glas Wein. Hinter ihr lagen zwei Stunden Fahrt auf der Autobahn. Sie hatte zu viel Alkohol getrunken, war wie benebelt durch die Nacht gerast. Weg, weg, nur weg von ihm. Hinter ihr lag ihre Zukunft. Hinter ihr lagen sechs verschenkte Jahre.

Sie waren in Wiesbaden gewesen, in einer kleinen, schäbigen, verrauchten Kneipe. Vier Wochen hatten sie sich nicht mehr sehen können. Die Frau lebte hier, er dort. Zwischen ihnen lagen 220 Kilometer Asphalt, vierspurig, sechsspurig, vollgestaut. Zwischen ihnen lagen nun auch Welten.

Es war kurz vor Ostern. Frühmorgens war sie vom Gesang einer Amsel geweckt worden. Ihr erster Gedanke war Er. Sie hatte von ihm geträumt, und ihre Sehnsucht, ihn endlich wieder zu sehen, ließ den Entschluss in ihr reifen, ihn später anzurufen.

Ja, mein Bärchen, wenn du willst, dann komm doch heute Abend, hatte er gesagt. Es war Mittwoch, und sie hatte den Rest der Woche Urlaub genommen. Er lebte allein, nur die Woche über, in einer fremden Stadt, fern von Frau und Söhnen. Als er von seiner Firma versetzt worden und fortgezogen war, hatte es für sie - für sie beide? - eine hoffnungsvolle Trennung bedeutet.

Sie hatte begonnen, ihm täglich zu schreiben. Es war ihr zum Überlebensritual geworden. Jeden Abend setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch und teilte heimlich ihre Gedanken mit ihm. Nie hatte sie es gewagt, einen der ungezählten Briefe abzusenden.

Dickerchen, hatte er gesagt, lies sie mir einfach irgendwann vor. Was meinst du, was los ist, wenn diese Briefe jemand findet. Und so schrieb sie ihm weiter, Abend für Abend, in der Hoffnung, die Heimlichkeit würde irgendwann ein Ende haben.

Sie fühlte sich ihm nah, sie hatte sich ihm seit der ersten Begegnung stets nah gefühlt. Jeden Tag der sechs Jahre, jeden einzelnen der zweitausendeinhundertzwei verdammten Tage. Selten hatten sie sich treffen können, anfangs zwei- oder dreimal die Woche, später nur noch einmal, dann auch mal 14 Tage oder drei Wochen gar nicht.

Liebes, du musst mich verstehen, ich muss vorsichtig sein. Sie hatte stets auf ihn gewartet. Hatte mit der Zeit alle Freundinnen und Freunde verloren, weil ihr das Telefon zum Fixpunkt ihres Lebens geworden war.

Schatz, ich liebe dich. Wir sehen uns Freitag, ja? Es wurde Freitag und kein Anruf kam. Es wurde Mittwoch und das Telefon klingelte.

Kleines, es tut mir leid. Ich stecke bis über beide Ohren in der Arbeit. Morgen, ja? Es war ein elendes Spiel mit der Zeit gewesen. Sie hatte von Treff zu Treff gelebt.

Und irgendwann war er dann doch gekommen. Sie war ihm jedes Mal wie süchtig um den Hals gefallen, süchtig, seine Wärme, seine Nähe, seine Anwesenheit zu spüren. Er hatte seine Armbanduhr auf den Nachttisch gelegt und sie genommen, gierig, wie ein Verhungernder. Oft genug hatte sie dabei geblutet, hatte ihn dafür gehasst und ihn doch gleichzeitig geliebt: Er ist ein Mann. Danach war er ruhig geworden, und sie konnte schmusen mit ihm. Wenn Zeit blieb, aßen sie noch zusammen. Dann hob er mit bedächtiger Handbewegung seine Uhr auf, band sie um und rang sich ein paar tröstliche Worte ab. Sie blieb allein im Gefängnis ihrer Dachkammer zurück. Stets weinte sie bittere Tränen: Hatte sich das gelohnt? War das der Mann, den sie liebte? Ja - er hatte es ihr tausendfach versprochen: Irgendwann schaffen wir es, mein Mädchen, hab Geduld und hab mich lieb.

Seine Scheidung, hatte er einfließen lassen, würde ihn 35.000 Mark kosten, die er nicht aufbringen konnte. Sie begann zu sparen.
Für die Kinder hatte er einen Garten gepachtet. Eines Tages wurde ihm dieser Garten angeboten. Lächerliche 35.000 Mark sollte er kosten. Er war wild entschlossen, das Geld zusammen zukratzen. Für die Kinder.
Die Frau hatte ihre Zweifel verdrängt. Sie war stolz auf ihn. Was für ein guter Vater er seinen Kindern ist!

So lange hatten sie sich nicht mehr gesehen, und vieles ging ihr durch den Kopf auf de Fahrt nach Wiesbaden. Seine Söhne waren nun 14 und 16 Jahre alt, begannen langsam, ihr eigenen Wege zu gehen. Er wohnte getrennt von seiner Frau, zumindest die Woche über. Was, wenn ich wegzöge von hier, arbeitete es in ihrem Kopf. Damals, am ersten Abend, hatte er von sechs, acht Jahren gesprochen. Dann würden die Söhne groß genug sein. Sechs Jahre waren um.

Zum ersten Mal betrat sie die Schwelle "seines" Hauses. Es war ein bescheidenes Drei-Familienhaus aus den sechziger Jahren, in de er eine billige, bieder möblierte Einliegerwohnung gemietet hatte. Ihr war feierlich zumute, als sie den Klingelknopf neben seinem Namensschild drückte.

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Foto: Konstantin Gastmann  aboutpixel.de