Denn Liebe ist stark wie der Tod. Lianes Geschichte

von Andersdenkende
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Lianes Eltern haben versucht, ihren Geiger im Ausland zu erreichen, weil sie wussten, wie wichtig dieser Mann ihrer Tochter immer noch ist. Nachdem ihr Vater einmal telefonisch durchgekommen war, wurde sofort, kaum nachdem er sich vorgestellt und gesagt hatte, worum es ging, aufgelegt; ab da ging nur noch die Mailbox dran.
Lianes Eltern hatten zwei lange Briefe geschrieben, das Schicksal ihrer Tochter geschildert, ihn gebeten, sich zu melden – keine Reaktion.

Und das ist das, was mich so unendlich wütend macht, weil es auch wieder typisch ist: Jene Leute, die die Hauptschuld tragen, fehlen grundsätzlich immer dann, wenn es darum geht, etwas zu begleichen. Lianes Freund hatte Verantwortung, eine Menge Verantwortung sogar für diese junge Frau, die sich ihm geschenkt hatte. Als sie ihm lästig wurde, warf er diese Verantwortung von sich ab, als würde sie ihn nichts angehen.
Diejenigen, die nun eingesprungen sind, die die brachliegende Verantwortung übernommen haben und sich bemühen, für Liane noch irgendetwas zu tun, das sind andere, das sind wir, Lianes Eltern und ihre alten Freunde.

Wir sind es, die versuchen, uns Dinge auszudenken, mit denen wir sie erfreuen und wenigstens kurz zum Lachen bringen können, wir sind es, die an ihrem Bett sitzen, wenn es ihr schlecht geht, wir sind es, bei denen nachts um drei das Telefon klingelt, wenn Lianes Mutter es nicht mehr aushält, wenn sie jemanden zum Zuhören braucht, wenn sie nur noch in den Telefonhörer weinen kann: „Mein Kind stirbt, mein Kind stirbt, und ich kann nichts tun!“

Es ist so unendlich schwer.
Worte finden, wofür es keine Worte gibt, Trost spenden, wo kein Trost mehr ist.

Nichts auf der Welt ist ewig, nichts ist unumkehrbar.
Glück ist ebenso wenig unendlich wie Unglück.
Niemand hat nur die guten Phasen für sich gepachtet, niemand aber auch nur die schlechten. Jede Zeit geht irgendwann vorüber, jenen, denen es heute schlecht geht, wird es morgen gut gehen und umgekehrt.
Keine Situation, die nicht zu ändern wäre, kein Steuer, das man nicht herumreißen könnte.
Keine Entscheidung, die nicht widerrufbar wäre, kein Weg, auf dem man nicht umkehren könnte.

Wirklich endgültig und unumkehrbar ist nur der Tod.

Nach vorsichtiger Schätzung der Ärzte beträgt Lianes Lebenserwartung derzeit noch etwa vier Monate.
Vier Monate... was sind vier Monate?

Das Ende eines Sommers, noch einmal ein Herbst, ein letztes Schneetreiben, und wenn alles sehr, sehr gut geht, vielleicht noch ein Weihnachten.
Dieses Weihnachten, Weihnachten 2001.

Was werden die meisten von uns hier dieses Weihnachten machen?
Einige werden mit ihren Familien feiern, sich an den glänzenden Augen ihrer Kinder erfreuen.
Einige werden Probleme wälzen, sich mit möglichen Entscheidungen herumschlagen.
Einige werden sich mit ihren Partnern um Nichtigkeiten streiten, weil das an Feiertagen so üblich ist.
Einige werden einsam sein und weinen, weil der Geliebte nicht bei ihnen ist.

Nur Liane – Liane wird zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon tot sein.

Was sind vier Monate?
Nie wieder ein Frühling, nie wieder ein Sommeranfang.

Liane ist jetzt 29 Jahre alt.
Ihren 30. Geburtstag wird sie nicht mehr erleben.

Liebt euer Leben; ihr habt nur das eine,
und auch dieses gehört euch nicht, es wurde euch nur geliehen.
Delegiert die Verantwortung für euer Leben und euer Glück nie an einen anderen, er wird sie nicht tragen können, egal, wie sehr er sich bemüht.
Wartet auf keine Wunder, die von außen kommen sollen. Macht euch die Chancen und Gefahren eures Daseins selbst bewusst und handelt danach.
Lebt jeden Tag, ihr könnt nie wissen, wie viele Tage euch noch verbleiben, die Dinge zu tun, die euch wichtig sind.
Nehmt euer Schicksal fest in die eigenen Hände, besser heute als morgen, und auch wenn ihr anfangs nicht daran glaubt, werdet ihr über kurz oder lang spüren, dass ihr in der Lage seid, Einfluss auf eure Geschicke zu nehmen.
Passt stets gut auf euch auf, kein anderer wird das in dieser Form je können, denn ihr seid die einzigen, die 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr mit euch selbst zusammen seid.
Habt niemals Angst vor der Wirklichkeit, auch wenn sie manchmal ein hässliches Gesicht zeigt. Macht die Augen auf, seht sie direkt an und dann stellt euch ihr, ihr werdet letztendlich siegen.
Sucht nicht nach irgendeinem Sinn, der außerhalb eurer selbst liegt, ihr allein seid es, die dem eigenen Dasein Sinn geben können.
Liebt euch selbst, denn erst dann seid ihr in der Lage, auch einem anderen Menschen in Liebe zu begegnen.

Ich wünsche euch alles Glück der Welt.
Die Andersdenkende
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Foto: Mario Meinhard  piqs.de