In aller Stille. Abschied von einer Freundinvon Andersdenkende
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Für Liane
20.5.1972 - 9.12.2001
Liebe Freundin,
es ist soweit.
Du bist gegangen, erwartet und doch plötzlich, bewusst
und doch willenlos.
Leise und ruhig am Schluss, in aller Stille.
Ich stehe hier und kann dir nur nachblicken, weiß, dass ich dich loslassen
muss.
Es fällt mir so schwer.
Im Hintergrund läuft „Whole again“ von Atomic Kitten, die CD wäre mein
Weihnachtsgeschenk für dich gewesen.
Doch dich kann keiner wieder ganz machen.
Warum ist Leben so unsicher? Kein Halt, keine Garantien, kein Netz,
endgültig ist nur der Tod, ansonsten haben wir keine Gewissheit.
All diese Bilder in meinem Kopf. Du hast zu uns gesagt, wir sollen dich
nicht so in Erinnerung behalten, wie du jetzt am Ende warst, sondern so, wie
du früher warst.
In meinem Kopf aber sind alle Bilder gleichzeitig.
Ich sehe dich vor mir, unser Kennen lernen im Seminarraum, damals warst du
noch eine Fremde für mich. Ich sehe dein Lächeln, deine Lebhaftigkeit bei
unseren ersten Unternehmungen, höre deine Stimme am Telefon. Ich sehe dein
fröhliches Gesicht, das Leuchten in deinen Augen, höre dein übermütiges
Lachen...
Deine Liebe und dein Scheitern daran.
Deine Hoffnung und deine Verzweiflung.
Dein Glück und deine Tränen...
Deine Haare im Wind, deine nackte Kopfhaut im Krankenzimmer.
Dein Strahlen für den Fotografen, die Ekzeme auf deinem Körper.
Dein temperamentvolles Gitarrenspiel auf einem längst vergangenen Fest, die
Stille an deinem Bett.
Reden und Schweigen.
Dein Leben und dein Sterben.
Deine Gestalt tanzend im Glück vor einigen Jahren und die Blumen an deinem
offenen Grab vor einigen Tagen.
Alles ist Leben und auch der Tod ist ein Teil davon.
Die Erinnerungen ziehen an mir vorbei, die ganzen letzten Tage schon.
Weißt du noch...
...als wir einmal nachts hoch zum Schloss geklettert sind. Eine total
verrückte Aktion, aber auch aufregend und wunderschön. Du bist oben auf der
Terrasse gestanden, hast dich weit über die Brüstung gelehnt und deine
Freude über die nächtliche Stadt hinaus gerufen. Du wolltest am liebsten die
Flügel ausbreiten und davonfliegen. Weil du frei sein wolltest, schon immer.
Warum geraten immer jene, die so gerne frei sein wollen, in Abhängigkeiten?
...als du für amnesty demonstriert und hinterher diese tolle Rede gehalten
hast. Du warst so mitreißend, so eins mit deiner Sache, dass es aussah, als
könntest du alles erreichen. Wohin ist all diese Kraft, all dieser Mut und
Einsatz geflossen?
...als du eine deiner legendären Partys gefeiert hast und du so lachen
musstest, dass dieser wackelige Stuhl unter dir zusammengebrochen ist. Wir
haben regelrechte Erstickungsanfälle bekommen und uns die halbe Nacht nicht
mehr beruhigen können. Keine konnte so lachen wie du, aus vollem Halse, so
voller Lebensfreude. Diese Party liegt nun schon so lange zurück, und doch
kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen, seltsam...
...als wir die Brautmodenschau in diesem furchtbaren Hotel hatten, du in
diesem Kleid. Du bist in der Garderobe gestanden, die Blumen noch im Haar,
hast dich im Spiegel angesehen und auf einmal ganz sehnsüchtig gesagt: „In
so einem Kleid will ich mal heiraten.“
Du hattest solch ein Strahlen in den Augen, so ein glückliches Lächeln der
Vorfreude im Gesicht...
Du hast nie geheiratet.
Wohin gehst du, wenn du gehst?
Ich sitze hier, habe alte Fotoalben wieder herausgekramt, Bilder von früher.
Neben den Fotos von dir sind da auch die Bilder jener, die ich auch schon
kannte, die mir auch schon nahe standen, die ich auch schon loslassen
musste. Familienmitglieder und Freunde, alte Leute manchmal. Aber auch
junge. Markus, 20 Jahre alt, er starb an einem Gehirntumor. Tina, auch 20,
Scharlachfieber. Natascha, 26, Lungenentzündung. Und Fabian, 23, der sich
das Leben genommen hat.
Alle diese Bilder in meinem Kopf.
Manchmal wünschte ich, ich könnte gläubiger sein. Nicht nur so ein bisschen,
nicht nur so, dass ich glaube, dass etwas über den Dingen steht und dass ich
viele Aussagen der Bibel schön finde.
Denn wenn ich richtig gläubig wäre, dann hätte ich Sicherheit, dann würde
ich wissen, dass dich „dort“ jemand in Liebe erwartet hat, dass „dort“ etwas
ist, das dich in die Arme geschlossen hat, bei dem du nun zuhause und
glücklich bist...
Ich konnte so wenig für dich tun, so unglaublich wenig. Ich konnte dich
nicht festhalten, so sehr du mich auch angefleht hast, so gerne ich es auch
getan hätte. Ich konnte nicht bei dir sein, als dein ganzes Inneres nach
Leben schrie, so schlimm, dass du sogar noch einige Wochen in der
Psychiatrie verbringen musstest. So lethargisch du zuvor auch gewesen bist,
so sehr hat sich zum Ende hin alles noch einmal aufgebäumt und sich an das
Leben geklammert, da wolltest du auf einmal LEBEN, LEBEN, LEBEN, aber es
ging nicht mehr, es reichte nicht mehr, und wir alle konnten nur zusehen.
Du hast uns gefragt, warum wir hier sind. Warum wir es mit dir durchstehen,
da sind, es mitmachen. War die Antwort wirklich so überraschend? Weil du uns
eine gute Freundin warst, und weil Freundschaft nicht endet, nur weil sich
die Rahmenbedingungen geändert haben.
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Foto: Stefanie Schneider
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